Paris,
eine Stadt mit vielen Gesichtern. Paris, eine Stadt
mit vielen Sehenswürdigkeiten. Paris, eine Stadt
mit wunderschöner Architektur. Paris, eine Stadt
mit Geschichte.
Paris ist aber auch voll mit Touristen...
Doch wenn man es schafft den einzelnen Menschen in der
Masse zu erkennen, dann kann es passieren, dass in Paris
Geschichte zum Leben erwacht!
Den ganzen Tag war ich unterwegs, immer
auf der Suche nach Motiven. Nicht unbedingt die Touristenmotive,
sondern
auf der Suche nach Situationen, nach Menschen in Situationen,
nach versteckten Dingen, die das
Flair dieser Stadt ausmachen. Es war ein ziemlich warmer
Tag. Ich kletterte die Treppen
des Triumphbogens herunter. Oben war ich, weil ich
360 ° Paris
einfangen wollte...
Es war schon später Nachmittag, meine Beine taten
mir weh. Die Hitze machte mir zu schaffen. Irgendwo musste
ich ein Plätzchen zum sitzen finden.
Unter dem Triumphbogen wimmelte es von Menschen. Mir
vielen drei ältere Männer in Uniformen auf,
die vor dem Gedenkfeuer standen und sich unterhielten.
Zwei von ihnen standen akkurat mit den Händen auf
den Rücken. Die Hände des ältesten steckten
leger in den Hosetaschen seiner Uniform. Doch seine
Haltung war sehr gerade, so wie die von einem jungen
Mann. Er
wirkte trotz seines Alters sehr fesch in seiner Uniform.
Irgendwo, neben einer Gruppe Jungendlicher, die ihre
Späßchen miteinander trieben, fand ich dann
unter dem Bogen auf den Vorsprung auch einen Platz. Da
ich zu faul war, machte ich im sitzen einige Fotos von
den Reliefs. Ausgelassen neckten sich Jugendlichen, flirten
und lachten neben mir. Ich legte meine Kamera auf meinen
Schoß und beobachtete mit einem Lächeln dieses
Treiben. Sie waren, denke ich, so zwischen 16 und 19
Jahre. Ein Stück weiter, hinter den Jugendlichen,
sehe ich wieder den alten Mann in seiner Uniform. Er
saß auch auf dem Vorsprung. Diesmal wirkte er viel älter.
Es war eigenartig. Er wirkte jetzt nicht mehr so sicher.
Jetzt wirkte er so, als hätten ihn seine Kräfte
verlassen. Mit seinen Hände stützten er sich
auf dem Sims ab. Erst jetzt erkannte ich, wie alt er
eigentlich war. Als ich ihn stehen sah, hätte ich
ihn um die 60zig geschätzt. Jetzt sah ich, dass
ich auf meiner Schätzung doch noch einige Jahre
raufpacken musste. Er ist wohl ein Kriegsveteran. - Die
Gruppe Jugendlicher riss mich, mit ihrem Lachen, kurz
aus meine Gedanken. - Wenn er jetzt so um die 70 – 80
Jahre ist, dann...?..., der Krieg ist jetzt seit 60 Jahren
vorbei..., ...müsste er damals ungefähr so
alt gewesen sein, wie jetzt diese Jugendlichen neben
mir!?
Und es war damals gerade Krieg! Ob er auch eine Liebste
hatte? Ober sie nach dem Krieg wieder sah? Seine Jugend
war nicht so unbeschwert wie die Jugend heute. Konnte
man so lachen, damals im Krieg? Vielleicht ist er ja
doch schon älter? Und vielleicht hatte er schon
Frau und Kind?
Als ich die Champs-Elysées entlang gehe, bin ich
tief im Gedanken. In einen Park setze mich auf eine Bank
und erinnere mich an die Geschichten die meinen Großmutter
mir aus der Zeit des Krieges erzählte. Von den Track
als sie Flüchtlinge waren. Wie die Wagenkolonne
im Winter über den zugefrorenen See musste und hinter
ihnen der letzte Wagen ins Eis einbrach... sie aber nicht
anhalten konnten, sondern im Gegenteil, die Pferde antreiben
mussten, um nicht auch zu ertrinken. Sie sagte dann immer
sehr ernst: „Es war eben Krieg!“
Sie erzählte mir von der Frau, die ihr neugeborenes
Kind im Fluss ertränkte. Ich konnte es nicht verstehen.
Sagte: „Wie herzlos muss diese Frau gewesen sein?“ Sie
antwortete: „Nein, herzlos war diese Frau ganz
und gar nicht! Sie war nur verzweifelt. Ihr Mann war
in russischer Gefangenschaft. Schwanger wurde sie durch
Vergewaltigung. Was meinst du, was aus dem Kind geworden
wäre, wenn es gelebt hätte und ihr Mann wäre
wieder da. Dieses Kind wäre immer ein Bastard gewesen.
Auch für die Frau! Es war besser so... Besser für
alle! Auch besser so für dieses Kind...“ Damals
war ich noch sehr jung, auch wenn ich es nur ahnen konnte,
doch lernte ich begreifen, wie unermesslich schrecklich
ein Krieg ist, egal auf welcher Seite man steht. So unermesslich
schrecklich, dass eine Mutter es schafft... zu ertränken
das eigene Kind!
Unsere Großmütter erzählten uns diese
Geschichten. Es sind Geschichten die sie selbst erlebten.
Doch unsere Großmütter leben fast alle nicht
mehr. Wer erzählt nun unseren Kindern davon? Sie
haben zwar Bücher und Filme, doch das Schicksal
des einzelnen Menschen bleiben anonym, denn es könnten
auch genauso Geschichten sein, die einer aus seiner Phantasie
erzählt.
Es gibt die Medien. Jeden Tag lesen wir von Krieg und
Katastrophen und hören die Zahlen der Opfer. Und
dann sagen wir betroffen: „Oh, wie schlimm!“ Doch
sind nicht auch diese Zahlen für uns anonym? Würden
wir leben können, wenn wir, bei all diesen Kriegen
und Katastrophen, uns immer bewusst machen würden,
das jede dieser Zahlen auch Einzelschicksale sind?
Wer
will diese Mutter verdammen? Hätten wir, oder
jemand aderes überhaupt ein Recht dazu?
Auch
von diesem Krieg gibt es eine Statistik der Opfer...
Doch die, die die Toten zählten, zählten sie
mit...?
...
dieses neugeborene Kind?
© Carmen
Mroch 2005