Tschernobyl?
Wie habe ich es erlebt? Eigentlich gar nicht. Jedenfalls
nicht bewusst. Damals als eine Katastrophe, die zwar
berührt, aber irgendwo auf der Welt passiert.
Erst heute, 20 Jahre danach, wird mir die tragweite
klar. Damals lebte ich noch in einem Ort in Nordvorpommern.
Heute, wenn ich lese was damals eigentlich passierte,
und dass man uns nichts sagte von der radioaktiven
Wolke über den skandinavischen Ländern...
Wir lebten ja nicht so sehr weit davon entfernt!? War
diese Wolke auch bei uns? Man sagte uns nicht, dass
wir bestimmte Lebensmittel besser nicht verzehren sollten.
Wir wussten nur, dass in dem Land des „großen
Bruders“ etwas passiert ist. Welche tragweite
es hatte, wussten wir nicht.
Meine Kinder sind gut gediehen. Im Zusammenhang mit
meinem Leben erinnere ich mich nicht an die Katastrophe.
Und erst die Plakate 20 Jahre nach
der Katastrophe, die Frage: „Wie habt ihr den Tag erlebt?“,
holt das Jahr 1986 in diesem Zusammenhang zurück. Ein Jahr an das
ich mich sehr gut erinnere. Das Geburtsjahr meines Sohnes.
Mein Sohn wurde am 2.Februar 1986 geboren. Meine Tochter war etwas über
2 Jahre. Im Oktober war unser Haus soweit fertig, dass wir einziehen
konnten. Damals machten wir das Land hinter dem Haus als Garten urbar.
Der Frühling kam sehr früh, und ich war sehr stolz auf meine
ersten selbstgezüchteten Radieschen. Damals im Osten, – so
lächerlich es heute klingen mag – war es ziemlich schwierig
frisches Gemüse zu bekommen. Der Garten war ein Segen. Zumal ich
sehr früh mit stillen aufhören musste, und ich meinen Sohn
beizeiten an normale Nahrung gewöhnen wollte.
Ich weiß genau, es war Ende Mai. Mein Sohn holte sich seinen ersten
Sonnenbrand an sein Beinchen. Er stand unter einem Baum in seinem Wagen,
als ich froh im Garten die ersten Kohlrabis ernten konnte. Für meine
Tochter hatte ich ein eigenes Beet angelegt. Allerdings, schlugen meine
Erklärungsversuche, was Unkraut und was Pflanzen sind, bei ihr etwas
fehl.
Gedanke
darüber, dass die Katastrophe von Tschernobyl
nur kurz zuvor war, machte ich mir nicht.
Sicher lag es auch daran, dass ich mir darüber keine Gedanken machte,
weil wir nicht informiert wurden. Die Katastrophe von Tschernobyl war
irgendwie im Irgendwo.
Dennoch habe ich zu Atomenergie eine sehr negative Einstellung.
Eine
Schulfreundin von mir machte ihre Ausbildung im Kernkraftwerk
Greifswald. Ich traf sie ein Jahr vor Tschernobyl.
Damals war sie hochschwanger. Sie erzählte mir,
dass beim Ultraschall festgestellt worden war, dass
ihr Kind einen zu kleinen Kopf und zu geringe Gehirnmasse
hätte. „Ach was die Arzte immer haben.“,
sagte sie noch. Später hörte ich, dass sie
tatsächlich ein krankes Kind zur Welt brachte.
Es muss genau zu dem Zeitpunkt von Tschernobyl gewesen
sein, als ich sie mit ihrer Tochter Anne traf. Anne
wird nie laufen können, nie sehen, nie sprechen,
nie alleine essen können, nie sauber werden...
Der Hinterkopf des Kindes war platt, als würde
da etwas fehlen. Die Arzte stritten ab, dass es am
KKW liege. Meine Cousine fing einige Jahre später
ihre Ausbildung dort an. Sie schmiss diese - Welch
eine Vergehen in der DDR... So was gab es da ja nicht!
- weil es mehrere Kinder wie Anne von Müttern
die dort arbeiteten gab. Sie wollte gesunde Kinder.
Später bekam meine Schulfreundin noch zwei gesunde
lebhafte Mädchen. Sie war derweil Floristin. Ich
sah sie zuletzt vor ungefähr 10 Jahren, kurz bevor
ich aus meiner Heimat wegzog. Anne musste in ein Heim.
Meine Schulfreundin viel es sehr schwer Anne wegzugeben.
Aber sie konnte Anne nicht mehr pflegen, da sie zu
schwer wurde. „Dort wird sie besser betreut.
Sie erkennt uns ja nicht. Weiß nicht, wenn wir
da sind. Aber immer wenn wir sie besuchen, legen wir
sie in ein Bad mit Bällen. Dann ist Anne so sehr
glücklich. Ich könnte ihr das selbst nicht
geben. Sie wird wohl keine 20 Jahre werden. Ich will,
dass sie solange auch lachen kann.“
Mag
ja alles sein, dass alternative Energie auch nicht
unproblematisch ist. Aber so gefährlich wie Atomenergie
kann sie gar nicht sein. Wenn man bedenkt, dass selbst
wenn man die Dinger abschaltet, sie immer noch gefährlich
sind. Und wenn sie keine Gewinn mehr bringen...? Wie
lange wird sich dann darum gekümmert? Wann werden
sie vergessen? Wann zerfallen sie.....?
Nein,
als ich die Plakate von Tschernobyl sah, dachte ich
nicht an etwas, was mein Leben verändert hätte
durch diese Katastrophe. Ich dacht an Anne... Ich dachte,
es ist bald Mai, Anne müsste Geburtstag haben!?
Sie wird jetzt 21. Wird...?
Ob
Anne noch lebt?
© Carmen Mroch 2006
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